Heute weiß man, dass Tinnitus eine Folge irregulärer
Erregungen im Bereich der Hörbahn ist. Ausgelöst werden diese zwar im Innenohr
durch kaputte Sinneszellen, bewusst werden sie aber erst bei einer Fehlfunktion
der Hörverarbeitung im Kopf. Denn die entscheidet letztlich darüber, welche
Geräusche verstärkt und welche unterdrückt werden.
Bei akuten Hörverlusten, z.B. nach einem Knalltrauma, einem
Hörsturz oder nach längerer Lärmeinwirkung, verstärkt die Hörverarbeitung daher
die damit verbundenen Geräusche. Dasselbe passiert bei Stress oder
Verspannungen in den Kiefergelenken, also z.B. bei CMD (craniomandibuläre
Dysfunktion) oder Bruxismus oder bei Blockaden im Bereich der Nackenmuskulatur.
Und da der Tinnitus selbst auch wieder Stress macht, entsteht häufig ein Teufelskreis,
aus dem die Betroffenen selbst nur schwer wieder herausfinden.
Aber auch die innere Einstellung gegenüber dem Tinnitus entscheidet
ganz wesentlich über den Leidensdruck, den die nervigen Ohrgeräusche auslösen. Will
man nämlich den Tinnitus unbedingt „weghaben“, ärgert man sich über ihn oder
lässt sich von ihm bestimmen, hält man ihn automatisch für wichtig und er wird
immer lauter und lästiger. Denn die Hörverarbeitung hat einen ganz einfachen
Job: Sie verstärkt wichtige und unterdrückt unwichtige Geräusche.
Wie aber soll ich ein Geräusch, dass ich nicht haben will
und das mich nervt, nicht mehr wichtig nehmen? Das ist die Schwierigkeit bei
jeder Tinnitustherapie. Ablenkung mit anderen Geräuschen und
Entspannungsmaßnahmen können zwar die Lautstärke des Tinnitus reduzieren und
helfen, den Teufelskreis aus Tinnitus und Stress zu durchbrechen, richtig
nachhaltig besser wird er aber erst, wenn man ihn nicht mehr wichtig nennt. Die
Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von Akzeptanzentwicklung. Und diese
Akzeptanz kann man lernen. Mithilfe einer kognitiven Verhaltenstherapie.
In den neuen europäischen Leitlinien zur Behandlung von
chronischem Tinnitus ist die kognitive Verhaltenstherapie daher die einzige
Behandlungsmethode, die eine wissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeit
besitzt. Die Forscher sprechen in diesem Zusammenhang von hoher Evidenz.
Lediglich die Hörgeräteanpassung bei Hörverlusten erzielt noch eine, wenn auch deutlich
geringere, Evidenz. Alle anderen Tinnitusbehandlungen wie Tabletten, Infusionen,
Noiser, Retraining-Therapien und akustischen Therapieverfahren wie tinnitracks bringen
nachgewiesenermaßen keine Besserung! Auch die Deutsche Tinnitusliga und der Berufsverband der HNO-Ärzte empfehlen die kognitive Verhaltenstherapie als Behandlung der Wahl.
Warum aber wirkt eine kognitive Verhaltenstherapie so gut
bei chronischem Tinnitus? Das liegt daran, dass letztlich unsere innere Einstellung
oder Haltung darüber entscheidet, wie wichtig wir den Tinnitus nehmen und wie
sehr wir entsprechend unter ihm leiden. Mit einer kognitiven Verhaltenstherapie
lernt man, schädliche Haltungen, die den Tinnitus verstärken, zu erkennen und
durch hilfreichere, die ihn unterdrücken, zu ersetzen. Schritt für Schritt kommt
man so mehr zur Ruhe.
Da Termine für eine Verhaltenstherapie allerdings nur schwer
zu bekommen sind und die Therapeuten häufig nicht auf Tinnituspatienten eingestellt
sind, haben HNO-Ärzte und Psychologen die Tinnitus-App Kalmeda entwickelt, die ein
spezielles verhaltenstherapeutisches Übungsprogramm für Tinnituspatienten
bietet. In dem Programm lernen sie, mehr Entspannung in den Alltag zu
integrieren, Achtsamkeit gegenüber ihren eigenen Bedürfnissen zu entwickeln und
den Tinnitus durch eine veränderte Einstellung zu bewältigen. Ergänzt wird die
App durch Entspannungsübungen und geführte Meditationen, eine Wissensbibliothek
und angenehme Hintergrund- und Naturgeräusche. Auch ein direkter Kontakt mit einem
Therapeuten ist jederzeit möglich.
Die leitlinienbasierte Tinnitusbehandlung wird von der BIG direkt
gesund als erster Krankenkasse im Rahmen eines Selektivvertrages mit dem HNOnet
NRW erstattet. Informationen hierzu gibt es unter
https://hnonet-nrw.de/fuer-patienten/hnonet-projekte/tinnitus-app-auf-rezept und auf der Webseite www.kalmeda.de
Einen Eindruck von der Therapie gibt das folgende kurze Video:
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